From/To, Fareed Armaly, Witte de With, Rotterdam; 28.1— 21.3.1999.”

Review

Der Stein ist das kleinste sicht- und faßbare Element des Erdbodens; der Bau eines Hauses beginnt mit der Grundsteinlegung; mit dem Grab-Stein wird das Ende eines Lebens besiegelt; der Stein kann aber auch der Verteidigung dienen und zum Wurfgeschoß werden. Die Metapher Stein ist für Fareed Armaly Ausgangspunkt seiner Ausstellung über Geschichte, Leben und Identität der Palästinenser, jenes Volkes, das bekanntlich ohne eigenes Territorium in der Diaspora lebt, und eines Staates, der 1948 aufgehört hat zu existieren. Fareed Armaly kennt sich aus, denn seit Jahren beschäftigt sich der in Amerika als Sohn palästinensisch-libanesischer Eltern geborene Künstler/Kuratorer mit Themen geschichtsbedingter Identitätsfindung. In diesem Falle geht er auch ein wenig den Spuren seiner eigenen Geschichte nach. Hoffnung auf ein Zuhause in souveränem Staat als Ergebnis des mutigen Kampfes der Intifada—so in etwa ließen sich die eingangs assoziierten Bedeutungen des Steines auf das Schicksal des palästinensischen Volkes projizieren, das hier in vielen Facetten ausgebreitet wird.

Nicht zuletzt, um das Schicksal dieses zerrissenen Volkes zu veranschaulichen, das sein Dasein mit dem Umherziehen von Camp zu Camp bestreitet, hatÝ Armaly den Stein auch zum Grundmuster seiner Ausstellungsdramaturgie und -architektur gemacht. Ausgangspunkt war die Digitalisierung der Oberfläche eines Steins und das übertragen der so gewonnenen Struktur auf den Hallenboden mit dem Ziel eines begehbaren Wegenetzes. Von Kreuzungspunkten aus laufen auf den Fußboden aufgebrachte weiße Streifen strahlenförmig auseinander bis zu den Wänden, wo sie als erdfarbene Bahnen zum nächsten Stockwerk hochgeleitet werden, um den gesamten Raumkörper zusammenzubinden. Nach der lich revolutionären Interpretation des Geographen Elisée Reclus im 19. Jahrhundert, der in seiner Forschung Geographie als ‘Geschichte im Raum’ interpretierte, ist hier Kartographie als in ständiger Bewegung begriffenes Gebilde eingesetzt. Als habe Reclus das digitale Zeitalter vorweggenommen, gibt das hier im Raum Gestalt gewordene Datennetz die Führung der Besucher vor. Man durchschreitet die leer belassenen Säle leibhaftig und fühlt sich im Zusammenhang mit Computern und Monitoren als dem einzigen Inventar gleichzeitig in einen künstlichen Datenraum versetzt; daher sind die Richtungshinweise des Wegenetzes wie “From Gaza to Al-Karama Camp, From City Center Amman to Al-Hussein Camp”, der politischen Lage entsprechend, zu lesen als Fiktion dessen, was lediglich als Hoffnung existiert. Eine aktuelle Karte des israelisch-palästinensischen Gebietes klärt nämlich darüber auf, daß diese genannten Wege unpassierbar sind; um von einem Ort zum anderen zu gelangen, müssen die Menschen strapaziöse Umwege auf sich nehmen.

Um so wichtiger werden die Neuen Medien; ihre Rolle und Bedeutung für das Aufrechterhalten privater und öffentlicher Kontakte und schließlich für die Identitätsfindung ist immens. Der Ausstellung käme daher ausschließlich modellhafter Wert zu und hätte keinen Bezug zur aktuellen Situation, wenn Armaly sein Projekt nicht ausdrücklich auf der Basis der Medien als Quelle umfassender Information und Kommunikation aufgebaut hätte. So aufbereitet spiegelt die Ausstellung ziemlich genau die wirklichen Verhältnisse, wo Telefon, TV und Computer die direkten zwischenmenschlichen Kontakte ersetzen müssen, und manche der Initiativen sind tatsächlich anwendbar oder bereits realisiert.

Das Angebot an lehrreichen Instruktionen wie unterhaltsamem Material ist lich überwältigend. Selbstredend hat Armaly zur wissenschaftlichen Untermauerung jedes Themenbereiches Spezialisten hinzugezogen; Historiker, Soziologen, Anthropologen, Film- und Fernsehleute garantieren den adäquaten Einsatz des jeweiligen Mediums und eine fundierte Darstellung eines jeden Inhalts. Zum leichteren Einstieg hat der versierte Ausstellungsdesigner jedem Bereich ein vielgestaltiges Poster beigegeben, ausgestattet mit schachbrettartig verteilten Fotos und Texterläuterungen. Gerne hätte man sich diese inhaltsreichen d.h. synchron zwischen Text und Foto hin- und herspringenden Informationen sitzend zu Gemüte geführt und sie nicht vor den Wänden stehend gelesen. Hat man sich einmal dieser unerläßlichen Verständnishilfe unterzogen, gerät der Besucher den Palästinensern vergleichbar mitten in den multimedialen Erlebnisraum.

Erstmalig kann man im Westen jüngste Produktionen von Spiel- und Dokumentarfilmern und - bemerkenswerterweise -filmerinnen anschauen. In Zusammenarbeit mit dem Rotterdamer Filmfestival lief ein reichhaltiges Programm ab. Doch auch in der Ausstellung ist eine präzise abgegrenzte Zone als Kinosaal eingerichtet. Nächst dem palästinensischen Film vergleichbar kommt dem Video außerordentliche Bedeutung zu, weil die Tapes wesentlich dazu beitragen, eine Informations- und Wissenslücke über die Geschichte seit 1948 zu schließen. In einem Ineinandergreifen von Raum und Identität gelingt es den Filmern, Erinnertes mit Fiktivem und Dokumentarischem überzeugend und ohne Einseitigkeit zu verbinden. Man erfährt vieles über das Leben in den Camps, über die israelischen Siedler, den Friedensprozeß, über Ausbildung, Kinderarbeit und Arbeitslosigkeit; nicht zu vergessen das Film- und Videoangebot speziell für Kinder. Nicht nur Armaly mit seiner Ausstellung leistet Friedensarbeit, sondern auch die dargebotenen Inhalte sind einer Versöhnung förderlich, weil ohne jede Polemik oder Parteinahme korrekt dokumentiert und intensiv analysiert wird.

Auch das Institut für Moderne Medien der Universität Jerusalem darf sich vorstellen: Es informiert über die Lehr- und Ausbildungstätigkeit und bringt selbst Produktionen über Themen wie Erziehung, Literatur, soziales Verhalten hervor. Außerdem war vorgesehen, daß eine Organisation jordanischer Frauen aus Amman per Fax wöchentlich ihre Berichte über fünf in einem jordanischen Camp lebende Frauen übermitteln sollte. Leider hat der Tod von König Husseins dieses Vorhaben zunichte gemacht. Mehr als nur Ersatz liefert eine Toninstallation, die Interviews aus Frauencamps überträgt; die Gespräche sind roh und ungeschnitten und überlassen es dem Hörer, sich von den Schicksalen der Frauen, die von Entwurzelung und Vertriebensein gezeichnet sind, selbst ein Bild zu machen.

Der mitten im Raum aufgestellte und daher nicht zu übersehende Computer unterstreicht innerhalb des Wege- wie auch des Datennetzes die zunehmende Rolle des elektronischen Mediums für die Information und Korrespondenz der Palästinenser. Hier kann man per online wichtige Essays, Karten und Dokumente anklicken, wenn auch z.Zt. noch gebunden an das lokale Netz Rotterdam; die aktuellen Web-Seiten ins Internet zu stellen, ist als nächstes Ziel avisiert.

Einen überraschenden und unerwarteten Einblick in die Geschichte und Selbstdarstellung der Palästinenser liefern zwei Photoarchive, eines in Jerusalem, das andere in Beirut. Bereits unmittelbar nach Erfindung der Photographie, nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts, erreichte das neue Medium auch Palästina; eindrucksvolle Beispiele interpretieren es vornehmlich als biblisches Land. Diesen Eindruck bestätigen auch die ausgestellten frühen Postkarten. Um die Jahrhundertwende entstand eine speziell für westliche Interessenten bestimmte didaktische Postkarten-Produktion; man steckte Einheimische in historische Kostüme, um Palästina als dem ‘Heiligen Land’Aktualität zu verschaffen. Auch heute lebt die historisierende Photographie neben der zeitgemäßen weiter fort.

Da Armaly immer daran gelegen ist, seine Projekte so weit wie möglich ortsbezogen anzulegen, funktioniert als Link zwischen dem Land des vorderen Orients und dem Ausstellungsort die Sektion “Neighbourhood”. Hier erfährt man am Beispiel einer Rotterdamer Fabrikgeschichte, daß nach den ersten palästinensischen Einwanderern in den 60er Jahren der Protagonist Salman inzwischen ein Niederländer-Palästinenser geworden ist.

Die eigentliche Qualität dieser Ausstellung zeigt sich darin, daß sämtliche Darbietungen gleichermaßen Interesse und Anteilnahme wecken und daß sie ihrer Aufgabe, zu informieren und aufzuklären, gerecht werden, ohne irgendwo befürchten zu müssen, daß Provokation oder gar Haß geschürt würde. Wie immer gelingt es dem Informationsarchitekten, einem brisanten Thema eine künstlerische Gestalt zu geben, die es auf den Punkt bringt. Armaly, 41 Jahre alt und seit Jahren in Wien und Köln lebend, hat gerade als Nachfolger von Nikolaus Schafhausen die Leitung des einst von Ute Meta Bauer ins Leben gerufenen, renommierten Künstlerhauses Stuttgart angetreten. Er wird nicht nur dort weiterhin Entscheidendes auf den Weg bringen.