“Bruchstücke, neu zusammengefügt.”

Eine Genfer Ausstellung zur Archäologie des Gazastreifens

Review

Nicht alle Tage empfängt das Genfer Musée d’art et d’histoire hohe Staatsgäste. Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas war zur Eröffnung angereist samt einer Entourage von Ministern und hohen Beamten. Ausstellungsbesucher mussten Sicherheitschecks wie am Flughafen über sich ergehen lassen. Palästinenser, die sich für den Anlass in Schale geworfen hatten, zollten Beifall, als Abu Mazen aus dem Auto ausstieg und in einer Seitentür verschwand.

Den Anlass bot die weltweit erste, grosse Ausstellung zur Archäologie des Gazastreifens. Eine Region von höchstem archäologischem Interesse: Mehr als 500 Objekte illustrieren eine sechstausendjährige Geschichte, in der sich Ägypter und Perser, Ptolemäer und Seleukiden, Römer und Byzantiner sowie die verschiedenen Dynastien islamischer Zeit ablösten. A la croisée des civilisations lautet der Ausstellungstitel, vielleicht zu übersetzen mit: am Schnittpunkt der Kulturen.

Karawanenroute zum Persischen Golf

Denn in Gaza kreuzten sich seit frühester Zeit zwei wichtige Verbindungen: Die Küstenstrasse, zu verschiedenen Zeiten Weg des Horus, ins Land der Philister, Via Maris oder Strasse der Sultane genannt, bildete die einzige Verbindung von Ägypten nach Asien. Ebenso entscheidend war der Landweg nach Osten: die auch unter dem Namen Gewürzstrasse bekannte Karawanenroute zum Persischen Golf und nach Jemen. Für die Nabatäer in der jordanischen Wüstenstadt Petra war Gaza der Mittelmeerhafen.

Auf dem rund 30 Kilometer langen Gazastreifen haben sich reichlich Fundstücke aus allen Epochen erhalten. Auf die ältesten, eher unscheinbaren Objekte folgen Skarabäen, ein früher Anker aus Stein, rot- und schwarzfigurige Vasen und eine kleine Aphrodite in durchsichtigem Gewand, gestützt auf eine ithyphallische Herme.

Die Objekte stammen aus zwei Quellen: Seit 1994 betreibt eine Altertümerabteilung der palästinensischen Autonomiebehörde archäologische Forschungen, in Kooperation mit internationalen Partnern. Parallel dazu hat der Bauunternehmer Jawdat Khoudary seit Anfang der neunziger Jahre bei Bauvorhaben eine erkleckliche Sammlung von Altertümern vor der endgültigen Zerstörung gerettet. Etwa die Hälfte der Genfer Ausstellungsstücke stammt aus seinen Beständen: Wer in Gaza die Erde aufgräbt, sei es nur, um ein Wohnhaus zu errichten, stösst überall auf die Spuren der Geschichte.

Am Anfang aber steht leitmotivisch eine Amphore aus dem 5. Jahrhundert, die kaum 100 Meter vom Museum entfernt unter der Genfer Kathedrale zum Vorschein kam: Messwein solle aus Gaza bezogen werden, schrieb schon der heilige Gregor von Tours. Marc-André Haldimann, der Kurator der Ausstellung, war als junger Mann an der Grabung beteiligt. Amphoren in einer langen Reihe markieren anschliessend die Zeitabschnitte.

Das Material der Geschichte

Auf andere Weise greift der amerikanische Künstler Fareed Armaly das Thema auf. Er rekonstruiert die Rekonstruktion der Amphore: als dreidimensionales Objekt, das nur aus Nähten und Ergänzungen besteht. Haldimann folgend, unterscheidet er zwischen diagnostischen Scherben—Henkel, Hals, Profile—, die dem Archäologen Hinweise geben, und den nichtssagenden Bruchstücken des Corpus. Diese lässt Armaly Stück für Stück als Aussparungen in Briefbeschwerern aus Kristall wieder erstehen. Die Scherben bilden so etwas wie das Material der Geschichte: das alltägliche Geschehen, die Bevölkerung, die in den Quellen nicht erscheint.

In den Bruchstücken und Leerstellen liegt unausgesprochen die Kernfrage des Ausstellungskonzepts: Wie rekonstruiert man Geschichte, worin besteht die Verbindung zwischen den Spuren einer grossen Vergangenheit und der prekären Situation der Gegenwart? Gaza ist ein Sonderfall: Trotz der immensen archäologischen Bedeutung ist die Geschichte der Region bisher nie aufgearbeitet worden.

Dies ist freilich auch eine Frage der Perspektive. Manche israelische Archäologen suchten nur obsessiv nach den Spuren der alttestamentarischen Geschichte. Das Abendland war eher an Stätten des Neuen Testaments interessiert. Jean-Baptiste Humbert, Archäologe an der Ecole biblique et archéologique française de Jerusalem, sah dagegen in Gaza eine Chance, von einseitigen Vorannahmen abzusehen. Er ergrub unmittelbar vor Gaza Teile des antiken Hafens von Blakhiyah/Anthedon. Dort soll nach dem Willen der palästinensischen Autoritäten ein archäologisches Museum entstehen, für das die UNESCO bereits die Schirmherrschaft übernommen hat.

Vergangenheit und Gegenwart stossen hier dicht aneinander: Das zwei Hektaren grosse Gelände grenzt hart an das Flüchtlingscamp Shati. Ein künftiges Museum nach dem Modell der Genfer Ausstellung würde nicht eine partielle Geschichte erzählen, sondern, ganz im Gegensatz zur aktuellen Ausweglosigkeit, den Handel, den Austausch und die weiten internationalen Kontakte hervorheben.

Musée d’art et d’histoire, Genf, bis 7. Oktober 2007.
Katalog “Gaza à la croisée des civilisations” (Chaman Edition, Neuchâtel, 256 Seiten).