Review
“(re)Orient spielt mit der Doppelbedeutung von Orient und orientieren: “You’re running through the Louvre,” heißt es im gedruckten Führer, einem wichtigen Teil des Projekts, zu einer ersten, wiederkehrenden Videoprojektion aus Jean-Luc Godards Film Bande à part, in der tatsächlich Schauspieler durch den Louvre rennen. “No, you’re not,” schärft der Text die Wahrnehmung, Teil eines mehrfach gefilterten Darstellungs- und Wahrnehmungsprozesses zu sein: “You identify: people running through the Louvre. You identify: actors playing ‘running through the Louvre.’”Armalys Exponate sind nicht autonome Kunstwerke im White Cube der Galerie. Sie sind Anhaltspunkte, um mit Hilfe des Führers die Wahrnehmung zu Stichworten wie Wahrheit, Beschreibung, Beobachtung, Erinnerung, Zeitlosigkeit neu zu justieren: sich zu re-orientieren. Die Galerie ist Kamera im griechisch-arabisch-lateinischen Wortsinn: ein Apparat der Bildproduktion. Sie wirft Licht auf die Objekte und damit auf das Thema, den Orient, der sich durch die Bilddarstellungen erst konstituiert.
Der Zeitpunkt der Ausstellung war gekennzeichnet vom epochalen Umbruch von einer bipolaren zu einer multipolaren Weltordnung. Im März 1989 hatte in Berlin das Haus der Kulturen der Welt eröffnet, von Mai bis August im Centre Pompidou in Paris die Ausstellung Magiciens de la terre stattgefunden, die erstmals den Kanon der westlichen Gegenwartskunst auf andere Weltregionen erweiterte, wobei beide an einem Konzept regional begrenzter Kulturen festhielten. Wenige Tage nach dem Ende der Ausstellung fiel die Berliner Mauer.”
...
“Orphée 1990 war Armalys erste Ausstellung in einer Kulturinstitution: der Maison de la Culture et de la Communication (MCC) in Saint-Étienne in der Region Rhône-Alpes. Es war zugleich eine Ausstellung über diese Institution, gegründet Ende der 1960er-Jahre als Teil des groß angelegten Kulturhaus-Programms des Ministers für kulturelle Angelegenheiten André Malraux, der im ganzen Land Tempel der Hochkultur einrichten wollte. Wie eine moderne Akropolis thront das voluminöse brutalistische Gebäude, auf einem Hügel im Zentrum der Stadt. Ursprünglich erbaut für Kulturveranstaltungen aller Art, dient der Bau nur noch als Oper: mit einem Saal mit 1.200 Plätzen, erstaunlich groß für eine Stadt von damals 200.000 Einwohnern. Die Eröffnung, als Haus für Kultur und Freizeit, fand im Februar 1969 statt, kurz vor Ende der Amtszeit Malraux‘, den die Verhältnisse vor Ort in den einzelnen Kommunen wenig interessierten. In der 68er-Zeit gerieten die Maisons de la Culture weiter in die Kritik. Solche Widersprüche waren es, die Armaly interessierten.”
...
“An den Wänden des Vorraums der Galerie hingen, sauber gerahmt, nicht eigene Werke, sondern Kinderzeichnungen. Der Ausstellungsraum selbst blieb unzugänglich, verbarrikadiert durch eine Glastür aus der Bauzeit des Kulturhauses, die Armaly aus dem Depot wieder hervorgeholt hat: undurchdringlich wie Cocteaus Spiegel, dessen Form in einem leeren Rahmen weiter hinten um Raum wieder auftauchte. Die hehren Ideale der Hochkultur konterkarierte die Ausstellung so immer wieder mit den gegenläufigen lokalen, marxistischen und pädagogischen Ansätzen der Nach-68er-Zeit.
Wenn es etwas gibt, was Malraux—der auch den Begriff des Musée imaginaire geprägt hat—mit den 1968er-Studenten verbindet, so die Hervorhebung der Imagination. “Forget all you have learnt. Begin dreaming,” heißt es im Ausstellungsführer: eine Aufforderung, Kulturinstitutionen wie das MCC nicht als gegeben, unveränderlich zu betrachten, sondern aus den konträren Ansätzen, die sich in ihnen verkörpern, eigene Schlüsse zu ziehen und neue Perspektiven zu entwickeln.”