“Wehe, wenn die Werke nicht mehr senden.”

Ein Kontext für heute, ein Kontext für morgen: Die Sammlung Schürmann in den Hamburger Deichtorhallen

Review

Leise, wie bei einem gut funktionierenden Aktenschrank, öffnen sich die Schubladen dieser Ausstellung und schließen sich sogleich wieder. Jede gibt ein wenig von ihrem Inhalt preis, aber nie liegt ein Vorgang tatsächlich im richtigen Fach. Es kommt immer darauf an, welcher Recherche im Kopf der Betrachter sich gerade hingibt, was er sehen möchte, was er bewiesen haben will. “Kontext” ist der Begriff der aktuellen Kunststunde der neunziger Jahre, und kaum eine Ausstellung konzentrierte sich bisher so effektiv darauf wie die private Sammlung des Aachener Fotografen Wilhelm Schürmann. Sammlerobsession und der Stand der Kunstszene haben in Werken von 58 Künstlern eine temporäre Idealkonstellation gefunden.

Es ist eine Ausstellung der mannigfachen Verknüpfungen. Die einfachste ist noch jene der diskret - oft in den Gängen - eingestreuten Fotografien von den zwanziger bis zu den sechziger Jahren. Man begegnet im Flanieren berühmten Werken von Weegee, dem New Yorker Sensationsfotografen, von August Sander, von Karl Blossfeldt oder Robert Capa. Die Ikonen der Fotogeschichte nutzten zu ihrer Zeit den Kontext, ohne darauf hinweisen zu müssen; Jugendfotos von Larry Clark, keiner zeigt falsches Glück schöner als er, setzen diesen Anspruch heute fort.

In den Architekturfotos Homes for America von Dan Graham, entstanden 1966, geht es schon etwas verklausulierter zu. Vorgeführt wird die Aufhebung der ästhetischen Funktion der Architektur bei weder schönen noch häßlichen, dafür aber schnell herstellbaren Einheitshäusern. Genauso sachlich wirken die Fotos—Bildmaterial zum Lesen. Nicht sie bilden den Wert des Kunstwerkes, sondern die Erkenntnis daraus. Homes for America ist eines der frühesten Beispiele von Kontextkunst. Die Serie, manchmal alleine, aber meist, wie auch in Hamburg, zusammen mit einem erläuternden Text präsentiert, wird schon seit Jahren von jüngeren Künstlern und Theoretikern als Schlüsselwerk betrachtet.

Von hier aus läßt sich ein weiteres Netz der Ausstellung knüpfen. Denn immer wieder ziehen sich Fäden, oftmals auch ironisch gebrochen, von einem Werk zum anderen und weiter zum nächsten. In diesem Fall hängen links eines Ganges die Homes of America von Dan Graham, rechts die Action-Fotos von Robert Capa, und mit beidem noch im Kopf schaut man nun auf die Blockhüttenfassade von Cady Noland samt dem Cowboymythos in Form eines davor plazierten durchlöcherten Blechkopfes. Wohl wissend, daß sich im Rücken das krude Eiseninterieur von Franz West befindet, durchschreitet man die Kontextzone Wohnen/Schein/Sein und stößt auf ein riesiges auf dem Boden liegendes Plakat von Heimo Zobernig. Es zeigt sechs Meter lang das Wort “Amerikaner”. Sofort fällt der Blick lächelnd zurück auf das Nolandsche Sensationskabinett und sodann auf das Kleingedruckte des Plakats, das sich als amerikanische Sozialstatistik entpuppt und auch noch einmal gebunden und gestapelt in Buchform vorliegt.

Mit diesem Stapel wiederum korrespondiert im selben Saal Christian Philipp Müllers statistischer Vergleich der Kulturausgaben der Städte Köln und Düsseldorf, der anhand der Volumen von Plexiglaskörpern dargestellt wird. Die in Statistiken gefaßten Wahrheiten werden wiederum gestört durch die perfekten Szenarien amerikanischer Alltagswelt in den kurzen Videostücken von Stan Douglas, die den Blick aus einem Seitenkabinett heraus abziehen. Diese Monodramen erzählen in dreißig oder sechzig Sekunden kleine Geschichten: ein Bus, der fast mit einem PKW zusammenstößt, ein paar einsame Feuerwerkskörper am nächtlichen Himmel, ein Schwarzer, der mit einem “Gary” verwechselt wird, ein Weißer, der vor sich hin schimpft. Leer agieren sie im Realitätsraum der Fernsehästhetik, und leicht führt der Weg zurück zu den traurigen Häusern von Dan Graham. Zwischen den beiden Punkten liegt ein Vierteljahrhundert Kunstgeschichte.

In dieser Ausstellung fließen die Dinge zusammen, als ob sie zusammengehören würden. Ohne Probleme vereinigt sich die aus dem Bauch kommende Frechheit eines Martin Kippenberger mit der intellektuellen Frechheit eines Peter Zimmermann. Während Kippenberger die verhärmte “Mutter von Joseph Beuys” auf Leinwand malt, bedient sich Zimmermann gegenüber einer ganzen Wand voller Plakate von Kunstausstellungen. Sie werden ihres Textes beraubt und mit einem neuen Text belegt, der allerdings das ursprüngliche Layout beibehält. Er beginnt auf dem ersten der 41 Plakate und läuft durch bis zum letzten; mittendrin heißt es: “Alle Akteure sind zuallererst Zuschauer. Sie sind Produzenten, indem sie beobachten. Das Politische liegt nicht mehr in der Symbolik der Produktion, sondern in der distanzierten Haltung ihr gegenüber. . . .”

Ein Paradebeispiel der so skizzierten Kontexthaltung stellt das Heft Regina von Regina Möller dar. Das Faszinosum Modezeitschrift wird mit reflektierendem Inhalt gefüllt, gepaart mit dem Versuch, das avancierte Layout dieser Gattung noch zu übertreffen. Unter der Rubik Familie spürt die Künstlerin ihrer eigenen frühen Rolle als Kindermodel Ende der sechziger Jahre nach, im Ressort Wohnen erscheint die Wohnung von Dan Graham, das Künstlerporträt zeigt Cosima von Bonin, besprochen von ihrem Ehegatten Michael Krebber. Die übliche Modestrecke wurde mit der aktuellen Kollektion des Belgiers Martin Margiela gestaltet.

Aber auch Schürmann selbst, der Sammler, der mit historischen Fotografien begann, die er später en bloc an das amerikanische Getty- Museum verkaufte, wird in seiner eigenen Ausstellung dem kritischen Kontext unterworfen. Jason Rhoades beschäftigt sich mit The Great See Battles of Wilhelm Schürmann. Kopien historischer Fotos erscheinen auf Kissen gedruckt, die in einer Art chaotischem Labor liegen, in dem kleine Halogenstrahler nicht nur Punkte ausleuchten, sondern auch bizarre Schatten an die Wände werfen. Die Seh-Schlachten waren offensichtlich solche mit Kissen, was ja befreiend wirken kann. Und tatsächlich befreit sich Schürmann immer wieder von Kunstwerken, “die nicht mehr senden”, wie er in einem Kataloginterview erklärt, weswegen er in wechselnden Konstellationen von Galeristen zugleich geliebt und gehaßt wird. Auch der Ausstellungstitel temporary translation(s) spielt mit dieser Haltung. Seine Auswahl ist nicht für alle Zeiten verbindlich, die übersetzung vielleicht nur teilweise gelungen.

In diesem Sinne kann auch eines der zentralen Werke in Hamburg interpretiert werden, die Wandarbeit von Fareed Armaly. Sie bezieht sich auf Arbeiten des Künstlers, auf eine Ausstellung in Frankreich, auf Blinky Palermo, auf Alltagskunst und Medien und schließlich auf die von Le Corbusier favorisierte Raumhöhe von 2,26 Meter, die hier in konkreten Zusammenhang mit der Hamburger Ausstellungssituation gebracht wird. Eine abgehängte Ecke verdeutlicht jene dogmatischen 2,26 Meter. Die verlängerte Ausstellungswand dagegen ist über fünf Meter hoch und wie eine Schultafel grün gestrichen. Darauf durften sich jugendliche Graffitizeichner austoben, einzig mit der Maßgabe, daß sie die Wand nur so hoch bemalen sollten, wie sie es aus eigenen Kräften schafften. Le Corbusiers Raumhöhe versagte in diesem Test, die Jugendlichen kamen gut einen halben Meter höher.

Doch die Kreidemalereien wurden wieder ausgewischt, von der Aktion selber bleibt nur ein Video. Was auf der riesigen Wandtafel stand, die feste Ausstellungswand und temporäres Kunstwerk zugleich ist, war vielleicht einmal wichtig. Was in der Sammlung Schürmann gerade zu sehen ist, ist im Moment wichtig, wenn es jetzt gesehen, verstanden und diskutiert wird. Wenn es einmal seinen Weg in die Museen gefunden hat, wird vieles von seiner aktuellen Bedeutung schon wieder ausgewischt sein. Aber dafür wird es dann in der richtigen Schublade ruhen.

Deichtorhallen, Hamburg, bis 12. Februar.
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