“Wo die Karawanenrouten enden.”

Eine Ausstellung in Genf präsentiert erstmals den archäologischen Reichtum des Gazastreifens–Ausgrabungen zur nationalen Identität

Review

Als Marc-André Haldimann und Marielle Martiani-Reber im April 2005 nach Gaza reisten, benötigten sie keine 24 Stunden, um sich von der Bedeutung der archäologischen Funde zu überzeugen, die sie dort zu Gesicht bekamen. Die Konservatoren des Genfer Musée d’art et d’histoire hatten zuerst die Grabungen besichtigt, die Jean-Baptiste Humbert und Moain Sadeq in Gaza-Blakhiyah durchführten, dort, wo sich in der Antike der Hafen Anthedon befand. Anschließend hatte sie Humbert, der Archäologe der École biblique et archéologique française de Jérusalem, nach Gaza-Stadt zu den Sammlungen von Jawdat Khoudary geführt.

Seit zwanzig Jahren ist Khoudary als Bauunternehmer in Gaza tätig. Und gleich beim ersten Auftrag, zu dem er hinzugezogen wurde, einem Fischmarkt am Meeresufer, stieß er auf Spuren der Geschichte. Er fand ein umayyadisches Siegel aus Glas, das er seither wie ein Amulett um den Hals trägt: durchaus ungewöhnlich für einen Mann in Gaza, doch Khoudary ist überzeugt, dass dieser Fund sein Leben verändert hat.

Bis vor kurzem—im vergangenen November zerstörten israelische Bulldozer zur Hälfte den Sitz seines Unternehmens—beschäftigte Khoudary 300 Arbeiter, die er darauf verpflichtete, sämtliche Funde, auf die sie bei ihrer Arbeit stießen, abzuliefern. Auch wenn sich die Bauarbeiten verzögerten: um archäologische Objekte zu retten, scheute er weder Kosten noch Mühen. Denn Khoudary hatte erlebt, wie wertvolle Altertümer zerstört oder außer Landes gebracht wurden. Einen weiteren Verlust wollte er verhindern.

Noch am selben Tag, an dem sie die Sammlung Khoudary besichtigt hatten, begannen Haldimann und Martiani-Reber zu planen. Ende 2005 stand fest: In Blakhiyah/Anthedon sollte ein archäologisches Museum entstehen. Die Stadt Genf und die palästinensische Autonomiebehörde unterzeichneten eine Einverständniserklärung, die Unesco übernahm die Schirmherrschaft. Das Museum in Genf begann, palästinensische Fachkräfte auszubilden—und jetzt findet ebendort, im Genfer Museum, die weltweit erste große Ausstellung zur Archäologie des Gazastreifens statt, die mit 530 Exponaten schlagartig vor Augen führt, welch immensen Reichtum an Altertümern die Region zu bieten hat. Sie stammen—je zur Hälfte—sowohl aus der Sammlung Khoudary als auch aus der 1994 gegründeten Altertümerabteilung der palästinensischen Autonomiebehörde.

Der Parcours beginnt im vierten Jahrtausend vor Christus, als das vordynastische Ägypten bereits seine Fühler in die Region auszustrecken begann. Aus ägyptischer Zeit finden sich Skarabäen, aber auch ein früher Anker aus Stein. Dichter wird der Bestand seit der persischen Zeit im 6. Jahrhundert vor Christus sowie in der hellenistischen, römischen und byzantinischen Epoche. Unter den oft nur fragmentarisch erhaltenen Skulpturen fällt eine 48 Zentimeter hohe Aphrodite aus Marmor ins Auge, in durchscheinendem Gewand, gestützt auf eine Hermessäule. Ein Sack voll Geld versank in römischer Zeit im Meer vor der Küste von Gaza: Der Stoff hat sich aufgelöst, doch die Münzen halten durch Korrosion zusammen. Aus byzantinischer Zeit stammen ansehnliche Kapitelle, ein Fußbodenmosaik, eine bronzene Waage, aber auch zahllose kleine Öllämpchen. In der islamischen Zeit setzt sich diese Tradition fort, unter anderem mit weiteren Kapitellen, Skulpturenfragmenten und Grabplatten bis hin zu einer Marmorsäule, die 1917 als Grabstein für einen britischen Leutnant eine neue Verwendung fand.

Diesen Gang durch die Jahrtausende illustriert eine lange Reihe von Amphoren in der Mitte der beiden Ausstellungssäle. Die erste davon stammt aus dem 5. Jahrhundert und kam 1980 in Genf, kaum 100 Meter vom Museum entfernt, unter der Kathedrale zum Vorschein. Der Grund: Wein aus Gaza war zur damaligen Zeit berühmt. Messwein solle aus Gaza bezogen werden, schrieb schon der Heilige Gregor von Tours.

Dass der einzigartige archäologische Reichtum des Gazastreifens niemals zuvor mit einer Ausstellung gewürdigt wurde, liegt natürlich zunächst an der prekären gegenwärtigen Situation, die Khoudary folgendermaßen auf den Punkt bringt: “Wie wollen Sie von Archäologie und Geschichte sprechen, wenn niemand in der Lage ist, den Kindern Spielplätze anzubieten und Schulen, die nicht überbelegt sind, und ihren Eltern eine reguläre Arbeit, die ihnen erlaubt, den Lebensunterhalt zu verdienen?” Immerhin hat die Altertümerabteilung unter der Leitung von Moain Sadeq, zusammen mit Jean-Baptiste Humbert, seit 1994 eine Reihe von Grabungen durchgeführt. So dokumentiert die bronzezeitliche Stätte Tell as-Sakhan die Ankunft der alten Ägypter. Anthedon war wiederum jahrhundertelang ein wichtiger Umschlagplatz für den Mittelmeerhandel.

Dass Gaza nicht längst prominenter auf der Agenda der Archäologen steht, hat aber auch noch einen weiteren Grund. Anders als in Griechenland, Rom oder Ägypten befand sich hier niemals das Zentrum einer Zivilisation. Vielmehr lag Gaza an einem Schnittpunkt, wo sich die verschiedenen Kulturen begegneten. Hier verlief seit ältester Zeit die Küstenstraße, die als einziger Landweg Ägypten mit Asien verband. Zugleich endeten hier die Karawanenrouten vom persischen Golf und Jemen bis zum Mittelmeerraum. Gaza war der Hafen der Nabatäer, deren grandiose Wüstenstadt Petra heute die touristische Attraktion Jordaniens darstellt.

Häufig genug aber waren Archäologen, gerade im Heiligen Land, nur auf der Suche nach einer bestimmten Geschichte, sei es die der Ägypter, der Römer, des Alten oder des Neuen Testaments. Nicht so Jean-Baptiste Humbert, der Gaza als “ein fantastisches Fenster zur arabischen Welt” bezeichnet - um gleich hinzuzufügen: “Aber welche arabische Welt?” Denn, so Humbert im Gespräch mit Fareed Armaly: “Was wir vergessen haben, ist, dass der Kontakt zwischen der griechisch-römischen Welt des Mittelmeerraums einerseits, dem Indischen Ozean, Indien und China andererseits durch Gaza lief.”

Fareed Armaly, der frühere Leiter des Stuttgarter Künstlerhauses, ist an der Genfer Ausstellung mit einer künstlerischen Arbeit beteiligt: Jene Amphore, die am Anfang der Ausstellung steht und an deren Ausgrabung Haldimann einst beteiligt war, lässt er als virtuelles, dreidimensionales Modell wiedererstehen. Nur spart er alle tönernen Fundstücke aus und rekonstruiert statt dessen die Nähte und Fehlstellen. Geschichte, so der Künstler, könne immer nur Rekonstruktion sein, ein Zusammensetzen von Scherben.

Jawdat Khoudary propagiert seit mehr als zehn Jahren die Idee eines Nationalmuseums von Gaza. Welche Geschichte dieses Museum erzählen soll, beschreibt der Unternehmer so: “Es gibt keine historische Figur, von Alexander dem Großen bis Napoleon Bonaparte, die nicht durch Gaza gegangen wäre. Ich würde hoffen, das Museum könnte einfach zeigen: diese schöne Töpferware kommt aus Karthago, jene aus Athen, diese andere wiederum aus Zypern, jene aus Alexandria. Um auf die vielfältigen Verbindungen hinzuweisen, die wir in den verschiedenen Zeitabschnitten hatten.”

Bis zum 7. Oktober im Musée d’art et d’histoire, Genf.
Katalog “Gaza à la croisée des civilisations” (Chaman Edition, Neuchâtel, 256 Seiten).